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Tote Ratte | 2023 | Öl, Acryl, Leinwand | 180 x 160 cm


Bericht einer toten Ratte

Kurzgeschichte von Jochen Faber


Als ich schon viele Jahre tot war, hörte ich plötzlich Scharren und Schieben, und es wurde heller um mich herum. Der Mann räumte Bretter und Schutt weg, schaufelte Dreck und vergammelten Spelz in eine Schubkarre und legte nach und nach das ganze Eck frei, das meine Ruhestätte gewesen war. Weil eine Frau ihn rief, wusste ich, wie er hieß. „Was machst du, Jan?“, fragte sie ihn. „Platz“, sagte er. Dann hörte ich ein Klicken und nochmal seine Stimme: „Und ein Bild.“
Ich wurde also fotografiert. Mit einem Taschentelefon, das ein Klick-Geräusch nachmachte, so wie die Fotoapparate klangen, als ich noch lebte und als das Ganze hier noch ein kleiner Bauernhof war, mitten im Ort. Die Frau fragte: „Was ist da?“, und er sagte: „Eine tote Ratte. Ein Skelett.“ Plötzlich lebte ich also wieder. Ich war nun ein Bild.
Viele Wochen später wurde ich einem anderen Mann gezeigt. „Da hinten hab ich neulich freigeräumt“, sagte Jan zu ihm. „Ich male gerade so viel, da brauch ich ja immer noch mehr Platz für die Bilder. Und das hab ich da gefunden. Bisschen eklig. Aber sieh dir diese feinen Strukturen an. Wahnsinn.“ Kai war nicht wegen mir gekommen. Er unterhielt sich mit Jan über Nazi-Verbrechen. Kai war Schriftsteller, und Jan hatte in einem Zeitungsbericht gelesen, dass er über das „Hotel Silber“ recherchiere, die frühere Einsatz- und Folterzentrale der Gestapo im Herzen von Stuttgart. Er arbeitete an einem künftigen Buch, einem von mehreren, die er aktuell vor sich hatte. Weil Jan das interessierte, hatte er Kai angerufen.
Der schaute sich auf Jans Telefon das Bild von mir an. „War das mal ne Ratte?“ Jan nickte. Dann sprachen sie über Bilder, die Jan gemalt hatte: Eine Gefangene in einem Konzentrationslager der Nazis. Überlebensgroß, mit trauriger Würde, die die Verbrecher ihr zu rauben versucht hatten. Die kalten Tische, auf denen sie ihre Opfer zerstückelten und sich als Forscher aufspielten.
Die alte Scheune und das ganze frühere Bauernhaus waren voll von großen Gemälden wie diesen – und von ganz anderen. Poetischen, lakonischen, ernsten, verzweifelten, hoffnungsvollen, fröhlichen, liebevollen. Das Gespräch der Männer entwickelte sich so vielfältig wie die Bilder.
Wieder Wochen später waren sie zu viert. Kai hatte zwei Kumpels aktiviert. Joachim war ein Schriftsteller-Kollege. Jochen machte Figurentheater und hatte eine elektrische Mandoline. Die Idee war, Texte und Szenen zu gestalten, die sich um Bilder von Jan drehten, und sie in einem Kulturprojekt gemeinsam mit den Originalen live zu präsentieren. „Gemälde, Kurzgeschichten, Performance“, grinste Kai, „das hab ich noch nie gesehen und bin neugierig darauf.“ Wieder wurde ich rumgezeigt. Eine tote Ratte interessiert offenbar die Menschen.
Sie saßen im Garten hinter dem Bauernhaus, das nun schon seit Jahren Jan F. Welkers Arbeitsplatz als freier Maler war. Steil unter ihnen das Remstal, über ihnen die Sommersonne und gnädige Bäume, die Schatten gaben. Der Tisch gedeckt mit Essen und Wein, als säßen sie in der Toskana. Sie genossen diese neue Gemeinsamkeit und sprachen über alles Mögliche. Irgendwann auch über das geplante Kunstprojekt.
Kai Bliesener beschrieb die Räumlichkeiten in der alten Lederfabrik in Schorndorf. Joachim Speidel kannte sie ebenfalls und schwärmte von den Möglichkeiten, dort interessiertes Publikum zu treffen. Jochen Faber blinzelte in die Sonne. Er hatte gerade zum ersten Mal Jans Bilder im Original gesehen und fragte: „Wie wollen wir die ganzen Themen verbinden?“
„Wir nehmen die Bandbreite von Jans Bildern als Motto“, schlug Kai vor. „Die handeln ja von Leichtigkeit und Schwere.“ „Von schwerer Leichtigkeit und leichter Schwere“, nickte Joachim. Jochen war offenbar von mir als Bild beeindruckt, vielleicht auch vom guten italienischen Rotwein: „Sozusagen von toten Ratten bis zu … zu … von toten Ratten bis zu Gummibärchen.“
Und dann sprachen sie weiter, miteinander, durcheinander, von sich, von anderen, von Ideen, von Dingen, von Frank Zappa, von Waldo Weathers, von Romy Schneider und von Philip Seymour Hoffman, vom Krieg gegen die Ukraine und vom Schaukelpferd, mit dem Jans Töchter gespielt hatten, als sie noch klein waren. Irgendwann dann auch wieder von mir. Und das wurde dann ja diese andere Geschichte, eine neue Geschichte.

Die Geschichte ist im Buch „Tote Ratten und Gummibärchen – von leichter Schwere und schwerer Leichtigkeit“ enthalten.
ISBN 978-3-98576-043-5



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