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Life jacket | 2016 | Acryl, Leinwand | 210 x 110 cm


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Strand | 2015 | Öl, Acryl, Leinwand | 170 x 145 cm


Warum?

[ Auszug ]

Kurzgeschichte von Kai Bliesener


„Warum?“, fragte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. Die dunklen Korkenzieherlocken flockten dabei wild in alle Richtungen, während sich in den blauen Augen das Meer spiegelte. „Warum nur lassen wir sowas zu?“
„Ich weiß es nicht. Verdammt noch mal, ich kann es doch selbst nicht erklären.“ Er sah sie nicht an. Sein Blick streifte über die zerklüftete Landschaft, den sandigen Strand, an dem die Wellen sanft anlandeten. Ein Ort, an dem man sich unter normalen Umständen durchaus wohlfühlen konnte. Wenn da nicht …
Sie unterbrach seine Gedanken. „Ich kann es nicht glauben.“ Sie stampfte mit dem rechten Fuß auf den Felsen, und ihre Augen funkelten. Nicht neugierig, sondern wütend. „Wo ist denn da die Menschlichkeit? Warum, das Ganze hier?“
„Kennst du das bekannte Bild von Robert Capa?“, fragte er unvermittelt.
„Du meinst den Fotografen?“
„Ja.“
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. „Warum fragst du? Was hat der jetzt damit zu tun? Aber ja, der hat viele gute Bilder geschossen, wer kennt die nicht. Also, welches genau meinst du?“
„Ich meine den sterbenden Soldaten. Das hing doch früher überall in den Jugendhäusern, in Clubs, bei meinen Eltern im Büro.“
„Klar. Starkes Motiv.“
„Er hat mit dem Motiv dieselbe Frage gestellt. Why? Warum?“
„Ja, warum? Warum führen wir Kriege? Warum zerstören wir unseren Planeten und sägen den Ast ab, auf dem wir hocken? Warum sagen wir den Menschen, die Hilfe suchen, dass wir sie nicht haben wollen? Warum schauen wir zu, wie beinahe jeden Tag Dutzende, Hunderte von ihnen jämmerlich ersaufen und als Fischfutter im Mittelmeer enden? Und warum stecken wir diejenigen, die es überleben, in Lager oder schauen zu, wie sie von Menschenhändlern ausgenommen und missbraucht werden?“
Ihr Blick schweifte nachdenklich in die Ferne, als suche sie etwas Bestimmtes im unendlichen Blau des Mittelmeers. Sie standen auf einem Felsvorsprung. Von hier aus hatten sie einen guten Blick über die ganze Bucht. Die Sonne wärmte angenehm, während ein leichter Wind ihre Haut kitzelte.
Vor ihnen breitete sich ein zweites Meer aus. Eines ohne Wasser. Es waren Dutzende. Hunderte, vielleicht sogar Tausende. Ein buntes Meer orangeroter Leuchtfeuer, dazwischen blitzte es blau oder gelb. Einige Meter vor sich erkannte sie einen aufgequollenen menschlichen Körper, halb im Wasser, halb an Land liegend. Der Arm bewegte sich mit den Wellen auf und ab, und für einen kurzen Moment dachte Kyra, der Fremde winke ihr zu. Vielleicht hatte er in der Nacht mit dem Arm gewunken und gerudert, um Hilfe gefleht. Aber es war zu spät. Ihm konnte sie nicht mehr helfen. Auch nicht den anderen leblosen Körpern. Einige Helfer waren damit beschäftigt, sie in Leichensäcke zu packen. Für sie war es, wie Kyra wusste, ein Tag wie jeder andere. Es war normal, dass fast jeden Morgen der Strand mit menschlichen Überresten und Rettungswesten überflutet war.

[…] 

Die komplette Geschichte ist im Buch „Tote Ratten und Gummibärchen – von leichter Schwere und schwerer Leichtigkeit“ enthalten.
ISBN 978-3-98576-043-5



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